Brief 1973

Um diesen Brief zu verstehen, ist es unbedingt wichtig, den Vorspann zu kennen. Dieser sieht folgendermaßen aus:

 

August 1973 – Orte des Geschehens: Lollarer Bahnhof, Fluß Lumda, Lollarer Schwimmbad, Restaurant in Lollar

 

Das Ganze spielte sich 1973 an einem knallig heißen Augusttag ab. Peter war 30, ich  32. Ich hatte bei Peter in seiner Staufenberger Wohnung übernachtet (sicherlich nach einigen Flaschen Wein gemeinsam und viel Rauchen & Reden). Am nächsten Mittag gingen wir los – wie immer wollten wir raus in die Welt. - Und landeten heute in Lollar am Bahnhof. Wir hatten eine handliche kleine ½-Liter Flasche (Obst)schnaps dabei. Wir saßen also im Schatten der Überdachung des Haupt-Gleises Marburg-Gießen. Und ich trank (völlig ungewohnterweise) diesen Schnaps. (Normalerweise trank ich lediglich Wein oder Bier.) – Daß ich halbwegs blau war, merkte ich, als ich nach einiger Zeit auf einem der Bahn-Gleise balancierte und dabei immer mal wieder seitwärts wegkippte.

 

Der Lollarer Bahnhof. Rechts unter dem Vordach stand unsere Säufer-Bank:

Bahnhof_Lollar_(003)-1-B600

(Bild von Gerold Rosenberg. Siehe Wikimedia)

 

 

 

 

Nach dieser Eröffnung machten wir uns auf in Richtung Lollarer Innenstadt und landeten an dem eingefaßten und begradigten sonnigen Lumda-Flüßchen, kurz bevor es unter einer Brücke Richtung Lahn verschwindet. Dort gab es ein grünes Wiesenufer samt Sitzbank. Eine hübsche junge Maid, die einen mittelgroßen Hund mit einem hellen Kräuselfell dabei hatte, wurde von uns in ein Gespräch verwickelt, ihr Hund war freundlich, und man konnte mit ihm spielen. Plötzlich kam ich auf die geniale Idee, samt meinen Klamotten einen Flachköpper in die Lumda zu machen (wie ich dies aus früheren Zeiten vom Gießener Volksbad und  von der Lahn her kannte - vermutlich, um der Maid zu imponieren). Doch leider gab es dabei zwei Probleme. Das erste Problem war: Das Wasser war eine chemische Industriejauche. Das zweite Problem war: Durch die starke Strömung des Flüßchens bin ich gegen einen großen heimtückischen Unterwasser-Stein kurz vor der Brücke geschrammt und hatte dadurch einen offenen Schmiss an der Stirn.

Meine Schwierigkeit war nun, irgendwie eine Art Säuberung  bzw. Desinfektion zu bewerkstelligen, während Peter sich weiter um das junge Mädchen mit ihrem Hund kümmerte.

Wir verabredeten uns am Lollarer Schwimmbad am Haupteingang. Dort war dann tatsächlich auch Peter, und ich wollte von der Kabinenaufseherin – oder was immer sie auch war – eine Dusche genehmigt bekommen. Was diese aber strikt verweigerte. Deswegen gingen wir als nächstes hoch zum Waldrand, zur Cafeteria des Schwimmbads, die eine hohe Terrasse zum Schwimmbad hin hatte. Wir saßen am Rand dieser Terrasse im Sonnenschein. Die Mauer zum Rasen des Schwimmbades war ca. 2-3m hoch. Ich zog meine Schuhe aus und überließ diese Peter in fürsorgenden Händen, dann sprang ich hinunter und spurtete angezogenerweise zum Schwimmbecken auf der Südseite. Dort sprang ich, mitsamt meinen Klamotten in das schöne frische wunderbar gechlorte (also desinfizierende) Wasser. Nachdem ich etliche Meter meine spätnachmittagliche Bahn gezogen hatte, wollte mich ein Bademeister mit seinem Rettungs-Kascher einfangen. Doch da ich schneller war, landete ich ungehindert am Ende des Schwimmbeckens, dann raus, der Bademeister rannte hinter mir her, doch ich war trotzdem schneller. Am Tor des Haupteingangs, das inzwischen verschlossen war, schaffte ich es geschickt drüber wegzukommen – und war gerettet. – Draußen kam dann Peter mit meinen Schuhen von der Cafeteria her anspaziert.

 

 

Das Lollarer Waldschwimmbad von der Terrasse des ‘Schwimmbad Cafès’ aus. (Ich schwamm von links nach rechts meine Bahn)

P1010937-Lollarer Waldschwimmbad von der Terrasse des Schwimmbad Cafés-B600

 

 

 

 

Wir verabredeten uns in einem Hotel-Restaurant in Lollar (das ebenfalls an der Lumda lag, nur hinter der Hauptstraße), während er sich wieder um das junge Mädchen kümmern wollte (neue Verabredung für später  usw.).

In diesem vornehmen Restaurant habe ich offenbar meine Hose zum Trocknen ausgezogen, was dort natürlich nicht üblich war. – Als dann Peter kam, bin ich nach Essen & Trinken irgendwann verschwunden, er hatte mir noch seine Jacke ausgeliehen.

Der folgende Brief von Peter knüpft an diese geschilderten Ereignisse an.

 

01-Brief von Peter, Aug 73-Überschrift 'Manfred'

natürlich dachte ich nicht, daß du dich heimlich davonschleichst – satt, im schutz(e) der nacht, triefend vermutlich, zähneklappernd zur bushaltestelle, einer schauderhaften abwässer-lungenentzündung entgegen (meine mutter, die es gut mit mir meinte, pflegte mir meine ganze kindheit hindurch die verschiedensten lungenentzündungen zu prophezeien! aber damals waren die wasser noch klarer!) und wie im fieber den rest deines hundertmarkscheins nach-und-nachzählend (mit bebenden lippen! nachdem du vier suppen und zweieinhalb liter exportbier ungeduldig auf einmal bestellt, gierig vertilgt und äußerst widerwillig bezahlt hast!)

der hotelier (gebürtiger ostpreuße: rauh-aber-herzlich oder wie der betr. saublöde fachausdruck sonst lautet) behauptete, du hättest exhibitioniert, was sogar-im strafgesetzbuch steht - er wußte auch den ff. paragraphen und seine prüde frau lag darob immer noch ohnmächtig aufm fußboden (hinter der theke - sie ist sowas nicht gewöhnt! sie stammt aus guter familie! wer soll jetzt die teller spülen?), aber für meine freunde ist mir nichts zu schade und so gab ich ihm zögernd 1.- blanke DM trinkgeld (und ließ- mir neunzig dpf rausgeben (fiel mir grad noch rechtzeitig ein): zum telefonieren!) und jetzt ist er bereit, ein auge wenigstens zuzudrücken!

mein szegediner gulasch hatte er warm gestellt! der wein war grad richtig - rhein oder mosel? fragte er heuchlerisch und griff dabei schon nach der einen einzigen flasche aus der schon seit jahren beides eingeschenkt wird - wenn du spätlese bestellst, gibt er noch zwo stück würfelzucker dran!

ganz-im-ernst: ich war (selbstredend) sehr oder mehr als enttäuscht anläßlich deiner unbemäntelbaren abwesenheit, die kneipe sehr öde im lampenlicht, das gulasch scharf aber gut! im suff ist mir jeder wein recht!

um dich, nachdem du dich in meiner abwesenheit angeblich vorbeibenahmst und davongingst, wieder in besseres licht zu rücken, erläuterte ich:

er heißt: heisenberg, werner! nobelpreis 1932! und: was heißt denn hier überhaupt exhibitionieren, he?! Diese nobelpreisträger haben eben ihre eigenheiten! er zieht zum denken immer die hose aus! sogenannte wohltäter der menschheit die sie nunmal sind usw. - hotelier nahm diese mitteilung genauso schweigend und gesenkten kopfes entgegen wie vorher mein trinkgeld (für das er nichts trank!) -

in meiner güte schlug ich vor, seine immer-noch ohnmächtig-darniederliegende frau (ich will doch hoffen, daß Sie gesetzlich getraut sind! wie? und er nickte gleich so trübsinnig-leeren blicks, daß ich augenblicklich bereit war ihm zu glauben!) mit brand-nein branntwein zu laben (wie man das in der volk-und-felsreichen doch wohlgeordneten schweiz mit christlichen schiffbrüchigen oder ertrunkenen bergsteigern weißer rasse zu tun pflegt!), doch er meinte: das braucht es nicht! er will sie nicht unnütz verwöhnen! sie käme auch so wieder zu sich!

Und das war also samstagabend:

während ich als alternder charmeur (besoffen wie errol flinn gab ich mir trotz schmutzigem hemd und ungebügelter cordhose die größte mühe clark gable ähnlich zu sehen! gerade ging auch die sonne unter!) keine mühe scheue, um minderjährige mädchen für dich aufzutreiben und sie und ihren altmodischen pudel (der

 

 

ab hier Seite 2

 

hund heißt wuschel!) am abendlichen waldrand mit lyrischem geschwätz uneigennützig zu betören, haust du einfach ab! sie ist 15, der hund 4 (jahre), wir trafen uns zweimal, das zweite mal kam sie ohne hund!

mitten in der nacht (wie naß das gras war! august-sterne: trunken! nacht: züge fuhren! der perfekt begradigte fluß floß stetig langsam-und-stetig und ungerührt vorbei! dieser brief ist ein musterbeispiel spontaner prosa!):

mitten in der nacht hörte ich ihren geilen vater mit flüchen und haustüren schmeißen (nächtliche ruhestörung: strafbar!) und: Angelika! rufen!

 

[… Stelle von mir unwesentlich gekürzt, M.A.]

 

und wie umsichtig klug-und-geschickt ich im schwimmbad anläßlich deiner ergreifung eine allgemeine samstagabend-panik vermieden habe! wie selbstlos ich dort auf mein bereits bestelltes preiswertes schnitzel verzichtete (aber auch den schon angetrunkenen kaffee schlau zu bezahlen vermied - eine art ausgleichender ungerechtigkeit!) und das blöde, doch vielköpfige (aber blöde) publikum mit hochmut düpierte und zur ordnung rief! (kann-sein düpiert ist das falsche wort, aber es ist drei uhr nachts, zehn nach drei (afn: blood sweat and tears! müdigkeit, kettenrauchen, kaffee-mit ouzo) und wenn meine rechnung stimmt, hab ich heute 26 stunden gearbeitet:

 

dazu kommen noch weitere 15 min. die ich verschwendete um mit wolfram, der morgen nach schweden fährt, einen abschiedskaffee im dachcafe zu trinken (seit das cafe schwarz gegenüber vom möser

 

{offenbar ein Fehler, sicher ist gemeint: gegenüber vom Bahnhof; Anm. M.A.}

 

vor vier wochen zugemacht hat ist er nahezu untröstlich! wir werden alle verbittert und trunksüchtig in trostlosen schäbigen exilen verkommen! meingott wieviel leute kannte ich, die ihr ganzes leben im ausland zubrachten und schließlich alt-und-einsam verrückt wurden, mit sich selbst redend und gestikulierend! in unverständlichen Sprachen! jeden tag drei liter algerischen tafelrotwein, die literflasche 90 centimes! oder wermut oder rum, oder pastis oder – man hätte mit ihm fahren können, aber wie es scheint, muß ich mir jeden tag meine -existenzberechtigung und die wirklichkeit der wirklichen welt neu verdienen indem ich mindestens zehn oder zwölf stunden schreibe! sonst ist die Zeit nicht  bewohnbar!

 

der hotelier (den man immerhin wegen verweigerter hilfeleistung anzeigen könnte - statt glühwein, grog, doppelbett und warmen klamotten weist er dir! einem gast der bei ihm zu abend speiste und vorher beinah ertrunken wäre (in dem gleichen begradigten bach der an seinem hotel vorbeifließt) ohne erbarmen die tür, nachdem er zuvor noch kassiert hat! wo du hinsiehst: lauter strafbare tatbestände! die welt ist voll davon! besonders immer samstagabends), der hotelier also behauptete: du hättest meine gute jacke mitgenommen! waren außer den filterzigaretten auch noch banknotenbündel drin?

{unwesentlich gekürzt, M.A.}

warum bist du weggegangen? ich kam fünf vor neun (oder noch eher) und hatte mit angie verbindlich vereinbart, daß wir sie um halb zehn wieder hoffnungsvoll treffen!

sie hatte ihre sämtlichen eltern eigens dazu überredet, an diesem milden samstagabend nicht auszugehn, sondern vergnügt im garten zu grillen (sie haben einen garten hinterm haus)! damit sie sich fünf vor halbzehn (im schutze der august-dunkelheit und voller vorfreude) heimlich davonschleichen könnte! jeder hilfsarWeiter hat heutzetaach seinen eigenen gartengrill! (die meisten

 

Ab hier Seite 3

 

selbstredend von nelle oder queckermann! während mir alle tage der bescheidenste balkon oder kleinste garten fehlt um zu tode erschöpft wenigstens im freien schreiben zu können! ich wäre schon mit einer wiese zufrieden die so groß wie ein tisch ist! aber es müßte ein kleiner see drauf sein, ein paar bäume die sich nach dem hintergrund zu im nahen (schweigenden) wald verlieren; heidelbeeren wären mir sehr recht, himbeeren auch! Kirschbäume; meinetwegen könnten kühe drauf weiden oder rentiere wie in lappland (hoch im norden behalten sie das ganze jahr über ihr winterfell: große weiße sanfte tiere mit langsamen friedlichen bewegungen und schönen luxuriösen geweihen!); das meer müßte in der nähe sein!

nach vorne zu aber müßte sie an den boulevard saint michel grenzen, meine wiese!

sie heißt Angelika! (der hund heißt wuschel! sie hatte ihn extra zu hause gelassen!)

als du beim zweitenmal auch nicht mitkamst, war sie sehr enttäuscht und wir mußten uns miteinander trösten! zumal es sehr kühl in der nacht und ich ohne jacke! (züge fuhren!)

du mußt auch bedenken, was ich deinetwegen selbstlos riskierte: ich vorbestraft und viele stunden tage monate augenblicke und ewigkeiten knast auf bewährung!

sie minderjährig, also strafbar!

und ihr eifersüchtiger alter vater doppelt so breit wie ich (und womöglich bewaffnet) hat eine frustrierende arbeitswoche im hochsommer hinter sich, grillt die ganze nacht im garten herum (tausende von heißen würstchen die er alle selbst fraß) und säuft flaschenbier dazu, was seine agressivität nur noch stichhaltiger bzw. schlagkräftiger gestaltet:

sein schatten unter der haustürlampe fuchtelnd war furchterregend!

und ganz lollar (wo ich sowieso schon sehr unbeliebt bin) samstagnacht voller ehrbarer scharfäugiger voyeure: alle ausgeschlafen und danach lechzend, anstoß zu nehmen und wie eulen mit vorzüglichen nachtgläsern von photo-porst ausgerüstet: sehr preiswert! bequeme teilzahlung!

während du dich mit dem bahnbus davongemacht hast (obwohl ich dir am mittag eine eisenbahnfahrkarte kaufte!) um im skarrabee unmengen billigen weißwein zu trinken, in der flo-ri-da-bar technicolor- pornographie zu schlürfen (in bequemsten direktorensesseln) und zu hause um mitternacht den kühlschrank {unwesentliche Kürzung; M.A.}  leerzufressen und auszuschlafen in allen vier zimmern die du hast, alles gleichzeitig in schnöder genußsucht!

(ist es nicht immer so: morgens geht man ahnungslos aus dem haus, andächtig und aufrichtig wie ein kind, regen, sonnenschein! und findet sich schließlich (spätestens gegen abend) in zahlreiche unfaßbare unbegreifliche unabsehbare wilde geschichten verstrickt! zuletzt kommt einem immer die nacht auf den hals und ganz zum schluß (heimwege!) ganz zuletzt ist es immer die gleiche nacht!)

 

falls du näXtens in-n buchladen mal kommst, bzw. in die sommerliche innenstadt (was ganz gut wäre): komm um-gegen zwei, damit wir in der ital. eiskneipe drei läden weiter je einen esspresso zusammentrinken können!

            03-Brief von Peter, Aug 73-Unterschrift 'Peter'-400

vier uhr nachts: vorstehende drei seiten werden mir jetzt ewig bei meinem buch fehlen! (auch später in der postumen kommentierten klassiker-gesamtausgabe, goldschnitt, schweinsleder - zierde jedes akademischen bücherschranks! auch als preiswerte attrappe erhältlich!)

SEI GEGRÜSST! (heb meine jacke gut auf! sie hat schon viel erlebt

wie wir alle

 

 

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