Wetzlarer Neue Zeitung 2008

Mit Fingerfarbe kommt Veränderung: Eltern der Studentenbewegung gründen Kinderläden

„Freiheit geben, sich auszuprobieren“

 

Von Sabine Preisler (06441) 959198

 

s.preisler@mittelhessen.deGießen /Wetzlar . Kinder, die ihre Hände in Farbe tauchen, matschen, ihre Wände bunter machen, ob Mädchen oder Junge im Garten toben, dabei dreckig werden und wenn sie das selbst so wollen – im Zweifel auch „sieben Tage am Stück als Indianer geschminkt“ morgens in der Gruppe erscheinen. In den Kindergärten der 60er Jahre ist das unerwünscht. Als die Studenten der 68er in Gießen Väter und Mütter werden, gründen sie deshalb eigene „Kinderläden“. „Es ging darum, die Persönlichkeit der Kinder ernst zu nehmen, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, sie zu fördern statt mit Kontrolle zu drillen, darum zu erklären statt zu verbieten.“ Margit Plaum hat das als Erzieherin des Kinderladens im Schiffenberger Weg mit erlebt.

Vieles aus ihrer Ausbildung beim Elisabethstift warf sie damals über Bord. „Ich habe umgelernt, gemerkt, dass als richtig Beigebrachtes, das Falsche war. Ich bin dafür mit viel Liebe der Kinder belohnt worden“, sagt die Frau, die sich nach der Zeit im späteren Abrisshaus zur Psychotherapeutin weitergebildet hat. „Wollte ich vorher, dass ein Bastelergebnis der Kinder vor allem besonders schön aussieht und habe dafür eingegriffen, gingen Idee und Umsetzung danach von den Kindern aus.“

Barbara Aulbach ist seit 20 Jahren in einem anderen Gießener Kinderladen Betreuerin. Er ist heute in der Rodheimer Straße angekommen und hat dieses Jahr mit Gaststar Daniel Cohn-Bendit schon 40. Geburtstag gefeiert. Sie steuert aktuell wie praktisch zur Methode bei: „Wenn ein Kind noch Salami auf sein Marmeladenbrot legen will, sagen neue Praktikanten oft ,das geht doch nicht’. Ich frage dann das Kind ,Hast du das schon gegessen?’ und rate, es zunächst mit einem bisschen zu versuchen.“

Trotzdem sei die „antiautoritäre Erziehung“ nie grenzenlos gewesen, erklärt Gießens ehemaliger Oberbürgermeister Manfred Mutz (SPD). Sein Sohn hat einen der ersten Kinderläden besucht, der zunächst in der Bahnhofstraße untergebracht war und wie andere Kinderläden später „ständig nach Unterkünften suchte, für die man wenig bezahlen muss“.

„Unser Ziel war es ja damals, Kinder in einem Umfeld ohne repressive Tendenzen groß werden zu lassen. Aber die Freiheit hatte Regeln. Denn es ging ja gerade um das Zusammenleben und nicht darum, ungehemmt Aggression ausleben zu lassen“, erklärt er. „Die Kinder entwickeln bei uns gegenseitiges Vertrauen, damit sie ihre Grenzen selbst akzeptieren“, ergänzt das Aulbach.

Die Einigung darüber, welche Erziehung es braucht hat zumindest die Gründergeneration der Kinderläden in Gießen noch Nächte lang in Diskussionen beschäftigt. Zwar beteiligen sich in Gießen auch heute Väter und Mütter mit Putz-, Koch- und Notdiensten sowie mit Garteneinsätzen und regelmäßigen Elterntreffen, doch Ende der 60er Jahre waren Eltern oben drauf selbst im Wechsel noch die Betreuer.

„Nicht konfliktfrei“ sei das gewesen, sagt Mutz. „Man war auch im Kinderladen, wenn man kein Kind war“, erzählt Gesine Klug-Hipke und lacht. Für die 62-Jährige, die während des Medizinexamens in Gießen für Sohn Christoph den Kinderladen wählte und später in Wetzlar Berufsschullehrerin an der Käthe-Kollwitz-Schule ist, hat sich das gelohnt: „Es ist gut, Kindern die Freiheit zu geben sich auszuprobieren. Es ist eine sinnvolle Grundlage, damit sie später im Leben gestärkt wachsen können.“

Horst-Eberhard Richter begleitet: „Atmosphäre, in der immer etwas los war“

Horst-Eberhard Richter, preisgekrönter Psychoanalytiker, Autor und emeritierter Professor, hat in Gießen damals Sitzungen der 68er-Eltern auf deren Wunsch begleitet und später im Buch „Die Gruppe“ aufgearbeitet.

Er nennt die Übernahme von „Verantwortung“ durch die 68er eine neue Qualität. „Während ihre Eltern als Kriegsgeneration vielfach schwiegen und dadurch Scham die 50er Jahre bestimmte, sagten die Studenten: ,Wir müssen besser verstehen, wer und was wir sind und was wir für alle wollen’.“

Das galt gerade auch für den Nachwuchs: „Klappte etwas im Kinderladen nicht, so klärten die Eltern, ob das an ihnen liegt, etwa wenn ein Kind streitsüchtig oder ängstlich war. Sie waren in diesen Runden sehr kritisch mit sich“, so der heute 85-Jährige. Dass dies auch komische Züge annehmen konnte, weiß Gesine Klug-Hipke: „Unser Sohn Christoph hat schon immer lieber mit dem Pinsel statt mit den Fingern gemalt, da wurde dann schon mal nachgefragt, ob es zuhause Probleme gibt. Aber sonst war es nicht so streng, es gab aber auch weit orthodoxere Kinderläden.“

Natürlich habe es auch in den Kinderläden Schwierigkeiten gegeben, bestätigt Richter. „Etwa als Maoisten später versuchten, kleine Kinder auf die rote Fahne auszurichten. Aber das war die Ausnahme“, sagt der Wissenschaftler.

Christoph Bröcker, 37 Jahre und Sohn von Klug-Hipke, ist nach 0,8er-Abischnitt mittlerweile in leitender Funktion im Computergeschäft. Beim Rückblick auf die Zeit im Kinderladen am Schiffenberger Weg gerät er jedoch ins Schwärmen: „Es war ein Gelände, das schön verwildert war. Eine sehr positive Zeit. Man kam hin und hat sich überlegt, was man heute wieder Tolles machen kann. Es war eine Atmosphäre, in der immer irgendwas los war.“ Ein Jahr hat er im Anschluss noch im normalen Kindergarten verbracht. „Das war von den Zeiten her eher geregelt. Da hieß es plötzlich, jetzt ist aber Bastelstunde, obwohl man vielleicht gerade draußen etwas zu tun hatte.“

„Die Kindergärten haben heute viel von unserer offenen Arbeit übernommen und auch die Kinderläden haben sich weiterentwickelt“, sagt Barbara Aulbach. Ob Tobebereich, Kuschel- oder Spielzimmer – in der Rodheimer Straße „lernen Kinder beim Spielen weiter sich frei und selbst zu organisieren“, aber es werden eben auch mehr Angebote gemacht – etwa einmal pro Woche Schwimmunterricht.

An einen ganz anderen für Studierende wie Berufstätige wichtigen Aspekt erinnert Klug-Hipke: „Einen Kindergarten für unter Dreijährige, das existierte damals einfach nicht.“ Im Kinderladen hatten dagegen schon 1968 Große und Kleine Platz.

„Die Kinderläden haben mit ihrer Idee für soziale Verantwortung, für Konfliktlösung ohne Ausgrenzung, ohne Gewalt nicht nur die Pädagogik verändert“, gibt Richter der Gesellschaft insgesamt den Rat, „stolz auf diese Errungenschaften“ zu sein.

 

Die Rasselbande vom Kinderladen Schiffenberger Weg macht sich wild geschminkt auf den Weg zum Schlitten fahren. Der Einsatz der Eltern ist in der 60er/70er Jahren Programm: In der Mitte Vater Wolfgang Kunkel mit Alexandra aus Chile auf dem Schoß, links daneben seine Tochter Annegret. Ganz links Pedro aus Spanien, ein Arbeiterkind, ganz rechts Erzieherin Margit Plaum.

 

Vom Spielen im „verwilderten Garten“ vor dem Kinderladen in Gießen schwärmt Christoph Bröcker (2. v. l.), mittlerweile in der Computerbranche beschäftigt, heute noch.(Fotos: privat)

 

 

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(gemeint ist der Kinderladen der Rodheimer Straße, nicht des Kinderladens im Schiffenberger Weg)