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Gießener Allgemeine-Artikel vom 17.09.2008
Bahnhof-Fernweh und Marzipanschnittchen
Gießen (kw). Mitten durch die Backstube des Café Rühl tobte jeden Aschermittwoch die Fassenachts-Polonaise, abends brachten US-Soldaten den Blues in die Innenstadt-Kneipen, sonntags pilgerten viele Familien »zum Fuhr«, um die Modelleisenbahn zu bestaunen.
Beinahe genauso beschaulich wie die Welt hinter Glas in der Sonnenstraße wirkt auf den ersten Blick die Stadt, die lebendig wird im Buch »Vom Spielwaren Fuhr bis zum Scarabée«. In den «neuen Geschichten und Anekdoten aus dem Gießen früherer Jahre« ist aber auch die Rede von Armut und Prostitution, von Enge und Spießbürgerlichkeit der Nachkriegszeit. Ihr drittes Buch stellen Herausgeber Norbert Schmidt und seine Kollegen Marina Gust und Hans-Peter Gumtz am Sonntag ab 16.30 Uhr in den Räumen des Ski- und Kanuclubs vor.
Wie schon in den ersten beiden erfolgreichen Büchern »Vom Selterstor zum Hawwerkaste'« und »Von der Bratwurst-Anna bis zum Karzentra« steht immer die persönliche Perspektive im Mittelpunkt: »Im Gießener Bahnhof, da gab es einmal am Tag einen Zug, der bis zum Meer fuhr. Wie eine frische Brise wehte diese Möglichkeit des Fortkommens über die rußig-schwarzen Bahnhofsgebäude, deren dunkle, dreckige Farbe sogar die umherfliegenden Spatzen angenommen hatten. Bei Regenwetter hinterließen sie kleine schwarze Pfützchen.« Nicht jeder kann es so poetisch ausdrücken wie der Schriftsteller Peter Kurzeck (Jahrgang 1943), der in Staufenberg aufwuchs und im neuen Buch ausführlich zu Wort kommt - doch das Gefühl des Festsitzens in der Provinz können viele nachempfinden.
Sie schufen Orte, an denen sie Gleichgesinnte treffen konnten: Vom in den sechziger Jahren neu enstehenden Kneipenleben erzählt der Text über das mittlerweile 46 Jahre alte »Scara«, das seinen Namen übrigens einem ägyptischen Gründer und dem damaligen Hang zum französischen Existenzialismus verdankt. Einer der Stammgäste dort war Manfred Aulbach, der seiner Mutter ab 1950 beim Betrieb eines Kiosks an der Ecke Seltersweg/Plockstraße half. Das Geld dafür hatte die ledige Frau zuvor damit verdient, dass sie in ihrer Wohnung Schnaps ausschenkte und Gelegenheitsprostituierte mit »Amis« zusammenbrachte. Nicht gerade ein Idyll. Der Sohn jedenfalls kehrte später nach einigen Semestern in Berlin nach Gießen zurück.
Geborgenheit in einer Gemeinschaft, in der man sich kannte: Natürlich kommt auch vor allem diese andere Seite der Provinzialität in Text und Bild zum Ausdruck. Liebevoll schildern Zeitzeugen - aus Geschäftsinhaber-Dynastien wie auch aus kleinbürgerlichen Verhältnissen - ihre Kindheit vor 40, 50 Jahren. Wer nahe dem Bahndamm in der Ludwigstraße wohnte, ging sonntags zum Kinderstunde-Fernsehen in den »Saalbau« und unternahm »vielleicht einmal im Monat« einen Ausflug in »die Stadt« mit den großen Geschäften - gemeint ist keineswegs Frankfurt, sondern die heutige Fußgängerzone. Das Klavierspielen lernten viele bei Aspasia Hinüber, geborene Stefanopoulou, die 1951 der Liebe wegen in Griechenland die mehrtägige Zugreise nach Gießen antrat.
Fuhr war ein Anziehungspunkt bis in die Jugend hinein, vor allem aber für die Kleineren: Vom Schaufenster wurden jeden Montag zahlreiche Spuren kleiner Nasen und Hände gewischt. Ein Fest war es, wenn die Mutter an einem Sonntag bat: »Hol mal vom Rühl drei Marzipan-Schnittchen mit der hellen Creme.« In dem Café konnte man regelmäßig Künstler treffen, für die das Stadttheater Gießen ein Karriere-Sprungbrett wurde.
»Rühl«, »Fuhr« und »Scara« gibt es bis heute. Die Standorte auch längst verschwundener Gaststätten und Geschäfte, die in den drei Anekdoten-Büchern vorkommen, kann man nun im neuen Buch ablesen an einem Innenstadtplan von 1967. Ob es bald einen vierten Band gibt? Von der überfälligen »Szene-Topografie Gießen 1960 bis 1980« ist im Buch schon die Rede …
Der Eintritt ist frei bei der Lesung am Sonntag. Passend zum Thema bietet das Team des Restaurants »Lahn-Terrassen« ab 18 Uhr ein »Sechziger-Jahre-Buffet« an. Dafür wird eine Reservierung empfohlen unter Tel. 06 41/39 03 61.
Norbert Schmidt (Hg.), Marina Gust, Hans-Peter Gumtz: »Vom Spielwaren Fuhr bis zum Scarabée. Neue Geschichten und Anekdoten aus dem Gießen früherer Jahre«,
Wartberg Verlag 2008, ISBN 978-3-8313-1909-1, 11,80 Euro.
[Internet-Version des Artikels der Gießener Allgemeine. Diese offizielle Internet-Version existiert leider nicht mehr, deswegen habe ich den Artikel hier auf meiner Website aufgeführt.]
Das folgende Kapitel dieses Buches entstand aus dem Gespräch, das Norbert Schmidt im Frühjahr 2008 mit mir führte:
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