...aus der Erinnerung, wie das Eck ca.1955 strukturiert war
ACHTUNG: DIESEN PLAN GIBT ES IN GRÖSSER UND DADURCH DEUTLICHER AUF DER NÄCHSTEN SITE - SIE MÜSSEN DANN HALT BEIM TEXT-LESEN HIN- UND HER SCHALTEN!
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Damit sich mal ein Außenstehender was drunter vorstellen kann, wenn ich vom “Teufelslustgärtchen” (im eigentlichen Sinne) rede, habe ich aus dem Gedächtnis einen Plan aufgezeichnet. Angeregt dazu wurde ich durch den Journalisten der Gießener Allgemeinen Zeitung und Mitverfasser diverser Gießen-Bände, Norbert Schmidt, der mir einen Innenstadt-Plan Gießens aus den 60er Jahren zukommen ließ (siehe unten). Da dieser Plan viel zu schematisch mit meinen eigenen Erinnerungen umging, hab ich nun selbst Hand angelegt, um klarer zu machen, welche differenzierte Welt da in den 50er Jahren immer noch existierte. Später habe ich von einem alten Bekannten Folkert einen Plan aus der Vorkriegszeit bekommen, für den ich mich hier ausdrücklich bei ihm bedanken möchte!
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Zwischen Seltersweg und Teufelslustgärtchen gab es eine Gasse, am Waffengeschäft Reinig vorbei (an dessen Schaufenstern mit echten Waffen ich mich nicht satt sehen konnte!), zum Teufelslustgärtchen. War wohl so, daß die Gasse selbst auch damals schon (amtlich) zum Teufelslustgärtchen gehörte, aber von mir aus betrachtet, war sie nicht das Zentrum. Das Herz der Sache war das “Eck” vor dem Alten Haus von Rocky Tocky (nach dem 50er Jahre-Schlager benannt: das alte Haus von RockyDocky, der auf amerikanisch wiederum ein 1954 in USA besonders berühmter Country Classic war: “This Old House”, womit Johnny Cash übrigens sein Gitarrenspiel in seiner US-Air-Force-Zeit in Deutschland perfektionierte). Heutzutage wird lediglich diese Gasse als Teufelslustgärtchen angesehen (vgl. auch den Ausschnitt des Innenstadt-Plans weiter unten). Das ist natürlich irreführend. Wahrscheinlich war der ganze Durchgang von der Löwengasse zur Kaplansgasse früher einmal (vorm Krieg) das wirkliche & wahre Teufelslustgärtchen. [Späterer Zusatz: Was aber doch nicht so ganz stimmt, da gab es keinen ‘Durchgang’, vgl. den Vorkriegsplan und den Kommentar dazu].
Vielleicht sollte ich meinen 50er Jahre-Plan mal ein bißchen näher erläutern.
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Man sieht in der Mitte des Plans das Teufelslustgärtchen Nr.18 in welchem wir im 3. Stock wohnten. Wenn man von dem Haus aus schräg nach links Richtung Seltersweg schaut, sieht man “Seelbach’s Garten”. Das war ein größeres Grundstück (vielleicht 1000 m²), das zum Teil mit einer dunkelroten Backsteinmauer eingefaßt war.
[Der Garten gehörte (jedenfalls vorm Kriech) zum Seltersweg 20, wie mir Stefanie Berger 2024 mitteilte, die Enkelin von Emma und Karl Seelbach, die im Seltersweg 20 vorm Kriech das Geschäft "Gebrüder Seelbach" (Polsterei, Gardinen, Teppiche) leiteten.]
Wenn das vor dem Krieg tatsächlich ein Garten gewesen sein sollte, so wuchs schlechterdings nach dem Krieg dort weder Gras noch Blume - außer vielleicht ein vereinsamter Löwenzahn, der sich ohne jede amtliche Erlaubnis hier her verirrt hatte. Es gab ein paar Bäume, darunter einige Apfelbäume, deren Äpfel karg und krotzig waren - also eigentlich ungenießbar. Doch für uns Kinder war der sog. Garten durchaus ein beliebter Aufenthaltsort. Keiner von uns wäre damals je auf die Idee gekommen darunter tatsächlich einen Garten zu verstehen. Dieser Einfall kam mir erst viel später einmal, sozusagen als Altersweisheit. Man konnte die Mauer des sog. Gartens immer gut als ein Western-Fort ansehen, das von den Indianern der Schuttberge aus der Richtung Kaplans Gasse attackiert wurde. - Abgesehen von diesen erbaulichen Tätigkeiten mußte ich jedoch leider viel zu oft zur Arbeit bei meiner Mutter in der Wurstbude im Seltersweg erscheinen. Dazu benutzte ich in der Regel den Trümmerpfad, der in Seelbach’s Garten anfing und am Seltersweg rechts neben einem Zeitungskiosk endete. Das Zeitungskiosk stand unter hohen Außenmauern des zugehörigen Seltersweg- Trümmergundstücks und der Kioskbesitzer hatte sich hinter seinem Kiosk ein gemütliches kleines dunkles Reich in den Trümmern eingerichtet. - Seelbach’s Garten war eigentlich das Erste, was ich vom Teufelslustgärtchen kennenlernte, nachdem 1950 klar war, daß wir demnächst hier hin ziehen sollten. Also stattete ich als 9-jähriger meiner zukünftigen Umwelt einen Besuch ab und lernte dabei schon ein paar Kinder aus dem Eck kennen, die am Rande von Seelbach’s Garten herumspielten. Dabei kann ich mich noch an Mechtild erinnern, ein Kind aus dem Haus links gegenüber vom Teufelslustgärtchen 18. Auf meine Frage, ob das denn wirklich stimmte, daß das hier “Teufelslustgärtchen” heiße, zeigte sie mir einen Ring an ihrer Hand: Ja das würde stimmen, diesen Ring habe ihr nämlich der Teufel geschenkt, der hier wohne. Das war schon sehr beeindruckend! Jedenfalls habe ich es nie wieder vergessen.
Damit diese Erläuterung des Plans ein bißchen aufgelockert wird, will ich erst noch ein Bild einblenden. Es stammt aus dem Jahr 1963, als es dem Alten Haus von Rocky Tocky ernsthaft an den Kragen ging. Man blickt aus dem 3. Stock in Richtung Kaplans Gasse:
Das Foto das mir freundlicherweise von Pat aus den USA (als Kopie) übersandt wurde und später noch mal von Silvia Leinberger (in guter Qualität) zur Verfügung gestellt wurde, strahlt für mich den eigenartigen sonnigen Charme der 60er Jahre (ab1963-64) aus. Neues und Altes koexistiert nebeneinander, das Moderne hat das Alte noch nicht totalitär überwunden. Der Parkplatz ist noch halbwegs menschlich.
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Gut. Man sieht also links noch einige alte Häuser der Katharinengasse. Der Schreinermeister Ruch hat sich offenbar erweitert, indem die Schuppen und die Taxi-Garage bei der Getränkeabfüllerei von Chabeso abgerissen wurden und er einen größeren Flachdachbau stattdessen errichtet hat. Dabei reicht die Schreinerei ein Stück weit in die ehemaligen Lehmtrümmer hinein. der Rest der Lehmtrümmer ist ebenfalls abgetragen worden zwecks Autoparkplatz. Im Hintergrund links sieht man das hohe Eckhaus von Katharinengasse und Kaplansgasse. Hier wohnte der Anführer der Kindergang des Teufelslustgärtchens (zusammen mit Bahnhofstraßen-, Löwengassen-, Mühlstraßen- und Katharinengassen-Kindern) die ihr Hauptquartier in den hohen zugewachsenen Trümmerbergen mit unterirdischen Kellern an der Marktstraße hatte (hin zum Löbershof und zum Burggraben), den “Sieben Gebirgen” in unserer Sprache. (siehe Innenstadt-Plan unten). 1969 war in diesem Eckhaus in einem Eckladen eine Art Antiquariat eines freundlichen Freaks. Es hatte einen künstlerisch gestalteten, rot und schwarz gemalten Ladeneingang mit der Inschrift “Avantgarde Art Shop”. Er hatte übrigens 2-3 große tolle Gemälde von Peter Kurzeck im Angebot, worüber der sich (wie er mir später kund tat) ärgerte, weil er sie ja mal einem Freund schenkte - und zwar allem Anschein nach nicht zum Weiterverscherbeln. Der Freak hatte auch noch interessante Musik dort laufen und Schallplatten zu verkaufen, die ich teilweise noch gar nicht kannte . Er machte mir freundlicherweise ein Kassette voll (z.B. mit Liedern von Leonard Cohen). - Die Neubauten der Kaplansgasse, die man geradeaus sieht, wurden schon ziemlich früh dort errichtet - schätzungsweise so 1952-53. Natürlich waren wir Kinder nicht nur in den Trümmern zu Hause, sondern auch auf allen möglichen solcher Baustellen. Einmal ist einer bösartig verunglückt in einer dieser Baustellen der Kaplansgasse. - Auf der rechten Seite des Bildes sieht man zwei Häuser, von dem das erste mit dem großen langen Balkon nach meiner Einschätzung erst gegen Ende der 50er oder Anfang der 60er gebaut wurde. Es breitet sich ungerechtfertigterweise auf einem Teil unseres vielgenutzten Trümmerspiel-Geländes aus - das Angriffsgelände der Indianer der Trümmerberge vor dem Fort Seelbach’s Garten - und ist der erste Vorbote einer weiteren Verödung der Welt. - Wie ein Kenner des modernen Gießens sicher mühelos erschließen kann, ist die Stelle der alten Häuser der Katharinengasse links auf dem Bild das Kaufhaus Horten. Vielleicht gehört auch das Grundstück des ehemaligen Teufelslustgärtchen 18 ebenfalls zum Gebäude des Kaufhaus Horten (das mittlerweile, 2013, auch perdu ist) - zumindest aber die Häuser rechts der damaligen Katharinengasse - und links bis zur Bahnhofstraße.
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Ein Problem meines Plans ist, daß er nicht die Biegungen mitbeinhaltet, sondern alles in gerade Linien und rechte Winkel aufgelöst wurde. Hier nun ein Ausschnitt des Innenstadt-Plans, den mir Norbert Schmidt freundlicherweise zusandte:
Was auch noch ein interessantes Phänomen ist, welches ich erst allmählich entschlüsseln konnte, war, daß die Landbevölkerung unter ‘Teufelslustgärtchen’ was völlig anderes verstand (und auch immer noch versteht), als wir, die wir konkret dort wohnten. Für die war das eine Art verruchtes Sündenbabel, wo man sich nur schuldbewußt herumschleichen durfte, insbesondere die männlichen Schüler aus den Käffern, die den Zugang zu diesem Hurenmilieu verboten bekamen. Was tatsächlich von ihnen unter ‘Teufelslustgärtchen’ verstanden wurde, war die ganze Gegend rund um Löwengasse, Bahnhofstraße, Mühlstraße, Kaplansgasse, Katharinengasse - und eigentlich nur am Rande das eigentliche Teufelslustgärtchen selber. Tatsächlich gab es im Teufelslustgärtchen selber keine einzige Kneipe oder gar eine erotische Bar. Auch konnte man dort nicht mit amerikanischen Straßenkreuzern langsam und lässig herumfahren (wie der aus Staufenberg stammende Schriftsteller Peter Kurzeck das im Grunde für Löwengasse, Bahnhofstraße oder Kaplansgasse in seinen diesbezüglichen wunderschönen Literaturstellen ausführt). Das Rotlichtmilieu hat sich erst allmählich in den 60er Jahren in der Mühlstraße, Bahnhofstraße, Löwengasse etabliert.
Hier ein Bild von der Löwengasse, aufgenommen von der Ecke Bahnhofstraße, 60er Jahre. Im Hintergrund links sieht man das Aushängeschild der Bar “Bel Ami”, die frühere “Pils Klause”, die in den 50er Jahren eine beliebte Ami-Kneipe war. Ganz hinten sieht man ein Stück der Johanneskirche.
(Das Foto wurde mir mit freundlicher Genehmigung von Silvia Leinberger zur Verfügung gestellt)
Das alte Haus von Rocky Tocky bei Nacht
(Fortsetznng im 2.Teil)
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